Wie mein erster Schüler mit 64 Jahren Cello spielen lernte
Hast du dich auch schon öfter gefragt, ob es in deinem Alter überhaupt noch möglich ist, ein Instrument wie Cello spielen zu lernen? Ok – dann habe ich hier eine – und nicht die einzigste – echte Erfolgsgeschichte für dich, wenn du dich fragst:
Soll ich meinen Traum vom Cello spielen DOCH nochmal angehen?
Es war im Herbst 2006. Ich hatte die Aufnahmeprüfung für mein Musikstudium bestanden und war euphorisch und voller Tatendrang in der kleinen Skyline-Metropole Frankfurt am Main gelandet. Hochhäuser, türkisfarbene U-Bahnen und endlich mal mehr Menschen verschiedener Hautfarben… Für mich als Eher-Kleinstadt-Mensch eine große Sache und JA, in diesem Flair konnte ich absolut meinen Traum eines Cellostudiums aufnehmen…
Für mich gab es schon immer genau zwei Dinge, die ich in meinem Leben machen wollte: reisen und Musik. Ich war etwa vier Jahre alt, als meine Mutter noch regelmäßig vor dem großen Notenständer im Elternschlafzimmer stand und Geige spielte. Das faszinierte mich. Und ich wollte das unbedingt auch!
Leider war mein Opa ein sehr angesehener Musiker mit einem hohen Erwartungsanspruch, den er auch auf seine Tochter, meine Mutter, übertrug. Das führte dazu, dass ihr das Geigespielen immer schwer fiel. Ihr launischer, nach ihren Erzählungen nach völlig inkompetenter Geigenlehrer tat den Rest dazu. Und trotz ihrer fleißigen Benühungen fand sie so nie die tiefe Erfüllung und Zufriedenheit in der Musik, die ihr das Geigenspiel ohne all das vielleicht offenbart hätte.
Nur wenige Monate, nach dem ich mein Musikstudium aufgenommen hatte, meldete sich Herbert bei mir. Herbert war damals 64, frisch pensioniert und suchte nach einem Cellolehrer. Was dann passierte, werde ich nie vergessen, denn es gleicht für mich fast einem Wunder, was ich immer wieder mit anderen Menschen teile und welches mich selbst inspiriert, wenn ich mal wieder in einem Motivationstief feststecke.
Cello spielen oder in der Ecke verstauben lassen?
Herbert und seine Frau hatten lange ein altes Cello auf dem Dachboden herumstehen. Da es immer mehr einstaubte, überlegten sie sich, welchen Sinn sie diesem schönen Instrument geben konnten. Schließlich schenkte Anna, Herberts Frau, ihm zum Geburtstag einen Gutschein über zehn Stunden Cellounterricht. Auf diese Weise sollte das Instrument endlich einen Nutzen finden. Und Herbert konnte seinen Kindheitstraum wieder aufleben lassen…
Herbert brachte das Instrument zum Geigenbauer, lies es von ihm herrichten und bat mich nun, ihm dabei zu helfen, dem Cello ein paar schöne Töne zu entlocken. Er selbst hatte absolut keine Ahnung von dem Instrument und Noten lesen konnte er auch nicht. Auch er hatte durch seinen musikfanatischen Vater ähnliche Erfahrungen gemacht, wie meine Mutter mit ihrem Vater und der Geige.
Cello spielen ist keine Frage von Talent, sondern von Fleiß
Nachdem Herbert seinen “Gutschein” bei mir eingelöst hatte und die zehn Cellostunden damit nun vorbei waren, gab es kein Zurück mehr. Alles, was ich ihm bis dahin gezeigt hatte, ließen in ihm die Freude für das Instrument und die Begeisterung am Musikmachen noch einmal so richtig aufkommen. Und wir spielten bereits erste, einfache Stücke zusammen. Herbert nahm sich Zeit und setzte das, was ich ihm beibrachte, mit unglaublicher Hingabe um. Er hatte es in erstaunlich kurzer Zeit geschafft, seine Kenntnisse und Fertigkeiten mit meiner Hilfe Schritt für Schritt zu erweitern und war dadurch bald in der Lage, seine Lieblingslieder auf dem Cello zu spielen.
Nach sechseinhalb Jahren kam Herbert immer noch zum Cellospielen zu mir. Mittlerweile spielte er ein Stück, an welchem ich im Rahmen meines Musikstudiums ebenfalls gerade arbeitete: die erste Suite für Violoncello Solo von Johann Sebastian Bach – kein leichter “Brocken”… Ein Zitat von Herbert heute:
„Du hast mich soweit gebracht, dass es mir ehrlich Freude macht, harmonisch, melodisch, rein und methodisch, punktiert auf 2 Bögen zu spielen die Noten. Viel mehr kann ich heute schon als vor 50 Jahren, als Finger und Synapsen noch gelenkiger waren.“
Musik lässt sich nicht aufhalten
Während ich damals noch dachte, dass dieser Mann ein echtes “Talent”, ein “Wunderkind” ist, weiß ich heute: jeder Mensch ist hochmusikalisch und es braucht einiges an Wissen, Können, Sensibilität und Ideen, um diese verschüttete Seite am Menschen wieder freizulegen und zu entfalten. Mir tut es immer richtig weh und sogar Leid, wenn ich von Menschen höre: “Ich wollte immer ein Instrument spielen, aber ich bin total unmusikalisch…” oder “Ich war nicht talentiert genug…”. Schmerzhaft ist es für Viele auch, zu glauben, sie hätten das falsche Instrument gelernt und für ihr eigentliches Lieblingsinstrument seien sie nun zu alt, sei es nun zu spät…
Und dann erzähle ich immer die Geschichte von Herbert.
Mittlerweile habe ich viele Herberts an meine Hand genommen und ihnen dabei geholfen, ihren Traum doch noch zu verwirklichen. Und ganz ehrlich – übers Musik machen und all diese Dinge werden ganz schön viele Märchen erzählt – achte genau darauf, wer sie dir erzählt… 😉
Titelfoto: Auntie Maureen - Boy With Cello - Eva Besnyö (Ungarn 1931)